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Wege aus dem Extremismus: Einblick in die Arbeit von Jugendsozialarbeiter Fabian Reicher

Episode Summary

In dieser Podcastfolge von dabei-austria gibt Sozialarbeiter Fabian Reicher Einblick in seine Arbeit. Er ist Mitarbeiter der "Beratungsstelle Extremismus." Eine wichtige Strategie ist es den Narrativen von radikalen Predigern in den sozialen Medien Gegennarrative entgegenzusetzen.

Episode Notes

Heute stelle ich Ihnen die Arbeit der Beratungsstelle Extremismus vor. Diese Stelle ist bei Boja angesiedelt – diese Abkürzung steht für „Bundesweites Netzwerk offene Jugendarbeit“. Dorthin können sich alle Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten, aber auch besorgte Angehörige wenden. Angeboten wird eine kostenfreie HelpLine, sowie persönliche Beratungsgespräche und Fortbildungen. Wie werden Jugendliche von extremistischen Gruppen angesprochen und warum ist es so wichtig dem eigene Erzählungen entgegenzusetzen? Darüber spreche ich mit Sozialarbeiter Fabian Reicher, der im Bereich der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit arbeitet.   

 

Kontakt zur Beratungsstelle Extremismus

Beratungsstelle Extremismus | bOJA

Die im Podcast erwähnten Initiativen und Projekte: 

Bücher:

Edith Meinhart, Cop und Che: Wie ein Tschetschene und ein Polizist zu TikTok-Stars wurden, 2024 Mandelbaum Verlag 

Fabian Reicher, Anja Melzer, Die Wütenden: Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen, 2022 Westend Verlag   

Soziale Medien: 

Die Wütenden: https://www.instagram.com/diewuetenden/

Cop und Che:  https://www.tiktok.com/@ahmadtvie

Girls*matter! Extremismusprävention für Mädchen* & junge Frauen*:  Girls*matter! Extremismusprävention für Mädchen* & junge Frauen* (@girlsmatter_boja) • Instagram-Fotos und -Videos 

 

Film

Schatten von Wien: Premiere: IM SCHATTEN VON WIEN im Gartenbaukino | Gartenbaukino Wien 

 

Das Foto wurde uns von Fabian Reicher zur Verfügung gestellt. Copyright: Christopher Glanzl

Episode Transcription

Herzlich Willkommen, sagt Sandra Knopp. Im Podcast von dabei-austria geht es um junge Menschen, die berufliche Perspektiven suchen und jene, die sie dabei unterstützen. In unseren Sommer-Ausgaben geht es um „Hass im Netz“ und darüber hinaus. Erfahren Sie, wie Experten und Expertinnen Jugendlichen zu helfen bei Cybermobbing und Extremismus Auswege zu finden. 

Heute stelle ich Ihnen die Arbeit der Beratungsstelle Extremismus vor. Diese Stelle ist bei Boja angesiedelt – diese Abkürzung steht für „Bundesweites Netzwerk offene Jugendarbeit“. Dorthin können sich alle Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten, aber auch besorgte Angehörige wenden. Angeboten wird eine kostenfreie HelpLine, sowie persönliche Beratungsgespräche und Fortbildungen. Wie werden Jugendliche von extremistischen Gruppen angesprochen und warum ist es so wichtig dem eigene Erzählungen entgegenzusetzen? Darüber spreche ich mit Sozialarbeiter Fabian Reicher, der im Bereich der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit arbeitet.   

Fabian Reicher: Was immer gleichgeblieben ist, ist, dass ich mit Jugendlichen arbeite und das eigentlich das Coolste ist, was man machen kann, finde ich. Ich stelle mir immer vor, in einer Welt ohne Lohnarbeitszwang würde ich trotzdem irgendwas mit Jugendlichen machen. Was sich natürlich geändert hat, ist natürlich die Lebenswelt der Jugendlichen. Es ist vor allem eine riesige Online-Ebene dazugekommen. Es gibt diese getrennten on- und offline Lebenswelten einfach nicht mehr. Und dem muss man auch Rechnung tragen. Und dass wir tatsächlich sehr stark auch probieren. Gerade in der Online Extremismusprävention haben wir begonnen damit, dass wir die großen IS Propaganda Narrative kontern - das heißt sehr stark mit Gegennarrativen arbeiten,  haben dann versucht, alternative Narrative vor allem zu entwickeln zu Themen, die in den jugendlichen Lebenswelten wichtig sind und wo ExtremistInnen quasi das auch aufgreifen und sind mittlerweile eher bei der Ebene, dass wir eigenen Content machen, eigene Themen setzen quasi so um einfach auch die Hegemonie der extremistischen und reaktionären Online-Themen quasi zu brechen. 

 

Fabian Reicher wurde 1986 geboren und ist in St. Johann aufgewachsen. Er hat in Wien die FH Campus absolviert und arbeitete zunächst als Streetworker auf den Straßen Wiens. 6 Jahre lang.  2022 veröffentlichte er mit der Journalistin Anja Melzer das Buch „Die Wütenden“, erschienen im West-End-Verlag. Der Untertitel: Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen.  Darin beschreiben sie anhand der Biografie von fünf radikalisierten Jugendlichen die Wirkungsweise der Propaganda des sogenannten „Islamischen Staates auf die Jugendlichen“. Ausgangspunkt waren Begegnungen mit Jugendlichen – Anfang der 2010-Jahre - am Donaukanal. 

 

 

 

Fabian Reicher: Es war sehr wild, sehr wilde Zeit. Die Zeit vor Tiktok, die Zeit vor Instagram. Auch wenn das für manche unglaublich ist. Aber damals ist YouTube groß geworden. Und tatsächlich war für die Kids, die ich damals kennengelernt habe, war Kampfsport ein großes Thema. Und andererseits natürlich auch die Konflikte in ihren Herkunftsländern.

Und ich bin da sehr stark in Beziehung getreten darüber, dass ich auch die Jugendlichen gefragt habe, ob sie mir zeigen wollen, was sie interessiert, was für sie wichtig ist. Hier mit den Videos zeigt und darüber bin ich eingestiegen. Das heißt Interesse zeigen für die Lebenswelt der Jugendlichen ist immer ein guter Einstieg, finde ich. 

 

Der Sozialarbeiter begann 2017 bei der Beratungsstelle Extremismusprävention zu arbeiten. Auf die Frage, ob man sich als Erwachsener TikTok zulegen müsse, um die Jugendlichen besser zu verstehen, riet er bei den dabei-austria Fachtagen im Mai: Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten, sollten sich damit zumindest vertraut machen, aber beachten: Die App gibt Inhalte wieder, die den eigenen Interessen entsprechen – die sich – auch aufgrund des Altersunterschieds -  von jenen der Jugendlichen unterscheiden. Daher sei es sinnvoll Jugendliche zu bitten, sich Videos, die gerade bei ihnen viral gehen, gemeinsam anzusehen. Wie baut Fabian das Vertrauen zu den Jugendlichen auf? 

Fabian Reicher: Na, da hilft mir tatsächlich schon auch Erfahrung, muss man sagen. Also dieses Austesten fällt mir jetzt natürlich viel leichter, wie es drei 20-jähriger, so also, dass ich stabil bleib und keine Angst kriege, um ganz offen zu sprechen und natürlich auch, wenn mir lang in dem Feld ist, dann kennen halt einfach auch viele Leute. Das heißt, mittlerweile gibt es relativ viele Leute, die jemanden kennen, der jemanden kennt, den meine Kolleginnen und ich unterstützt haben. Darum geht es jetzt eigentlich relativ leicht, das Vertrauen zu gewinnen der Jugendlichen, weil es auch viele Beweise auch gibt, dazu, dass wir wirklich helfen und uns halt auch ganz klar parteilich für die Jugendlichen positionieren und uns auch ganz klar an Polizei und Staat und Gesellschaft usw. kritisieren und versucht die Positionen der Jugendlichen eben auch oder die Ideen und die Gedanken der Jugendlichen auch den Leuten zu vermitteln.

 

Kanäle, um eigenen Content zu produzieren sind für Fabian Reicher Instagram und Tiktok. Die Links stelle ich Ihnen in die Shownotes. Auf Instagram wendet sich Fabian via dem Account diewuetenden (klein und zusammengeschrieben) an Jugendliche und junge Erwachsene. Darin informiert er über Initiativen und Podcasts, die für Jugendliche mit Migrationshintergrund und/oder Fluchterfahrung interessant sind – ordnet aber auch aktuelle Themen ein, wie etwa die Berichterstattung rund um Gewaltakte in Wien – zum Beispiel Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen mit syrischem und tschetschenischem Background im Juli. Der Peer-Ansatz –die Zusammenarbeit mit jungen Menschen - ist für Fabian Reicher bei der Erzählung von Gegennarrativen wichtig.

Fabian Reicher: Tatsächlich mache ich gerade hauptsächlich Content mit dem Ahmed gemeinsam, der ich schon in meinem Buch auch eine Rolle gespielt hat und der jetzt gerade sein eigenes Buch geschrieben hat mit der Edit Meinhart – oder die Edith Meinhart hat es mit ihm geschrieben. Da machen wir mit dem Cop Uwe, der Uwe Schaffer, ein Polizist aus dem 20. Bezirk, ein Grätzelpolizist, machen wir gerade hauptsächlich Content auf Ticktack. Zusätzlich dazu arbeitet man auch bei mehreren Projekten dabei. Also ich habe eben die Wütenden, wo ich auf Instagram aktiv bin, wo ich auch viel Content mit und für Jugendliche mache. Jetzt gerade sammeln wir zum Beispiel Spenden für die tschetschenische Familie, von denen der Onkel und der Cousin in den Ukrainekrieg geschickt werden soll. Also schaut gerne auf Instagram und wenn ihr was spenden wollt, gerne. Jeder Euro hilft tatsächlich. 

 

Im März 2024 erschien das Buch „Cop und Che“, geschrieben von Edith Meinhart im Mandelbaum Verlag. Darin beschreibt die ehemalige Profil-Journalistin, die nun als freie Journalistin beim Podcast „Die Dunkelkammer“ arbeitet, wie aus dem 24-jährigen Ahmad aus Tschetschenien und dem Grätzelpolizisten Uwe TikTok-Stars wurden. Ahmad, der nah dran war sich der Terrormiliz „Islamischer Staat“ anzuschließen, klärt in kurzen Videoclips mit Cop Uwe Fragen der ZuschauerInnen, wie: „Darf man zu einem Bullen – Bulle sagen, „Darf ich mein Gesicht komplett verschleiern?“ oder „Was sind die Folgen, wenn ein Polizist Gewalt gegen Zivilisten anwendet“. Ein weiteres Projekt gipfelte in einer Filmpremiere im Gartenbaukino. 

Fabian Reicher: Ahmad und ich arbeiten auch gemeinsam bei dem Projekt Demokratie, was geht? Mit - wo wir mit insgesamt zehn Kids Jugendlichen, jungen Erwachsenen komplett gemischte Gruppe den Film Im Schatten von Wien gedreht haben. Und da machen wir Content gemeinsam. Das heißt, im Schatten von Wien ist ein sehr, sehr gutes Label, finde ich. Hatte Bertolt Brecht hat schon der einen sind im Schatten, die anderen sind im Licht. Die, die im Schatten sind, die sieht man nicht. Und wir wollen den Schatten von Wien sichtbar machen. Wir wollen den Schatten von Wien auf die große Leinwand bringen und wir gemeinsam mit den Jugendlichen.

 

Im „Schatten von Wien“ ist ein 20-minütiger Kurzkrimi. Daran haben Jugendliche mit Fluchterfahrung mitgearbeitet. Sie konnten ihre Erfahrung ins Drehbuch einfließen lassen.  Gegenerzählungen zu schaffen und Jugendliche aktiv in Projekte einzubinden, sind wichtige Ansätze für Fabian Reichers Arbeit. Damit das gelingt ist es wichtig die Gegenseite zu verstehen, die Herangehensweise von jenen zu erkennen, die Jugendliche radikalisieren wollen. Ein Instrument ist Menschen gegeneinander auszuspielen. Dabei spielt Religion eine zentrale Rolle. 

Fabian Reicher: DasWichtigste in den großen extremistischen Erzählungen, egal ob jetzt von rechtsextremer Seite oder von dschihadistischer, islamistischer Seite. Wie auch immer, ist dieses WIR und die ANDEREN. Und diese Geschichte vollzieht sich gerade eben auf Musliminnen vs. Nicht-Musliminnen? Es kann in der Vorstellungen von Rechtsextremen und oder Dschihadistinen kann es kein friedliches Zusammenleben zwischen Musliminnen und Nichtmuslimen geben. Und leider findet sich für diese Geschichte sehr viel Argumentation in den Boulevardmedien, weil das natürlich auch immer sehr stark hervorgehoben wird und natürlich auch die Frage ist, wann wird über was berichtet und wann wird es nicht berichtet? So, und das Ding ist es ist. Aber die Geschichte stimmt einfach nicht. Und das ist eben auch eine Ebene, die wir vor allem online probieren. Wir versuchen hört auf auch sichtbar zu machen. Natürlich gibt es ein friedliches Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Und ich glaube, es gibt ein tiefes Bedürfnis schon auch bei den Menschen und bei der Bevölkerung, dass man wieder versucht, miteinander zum Reden und ins Gespräch zu kommen, auch wenn man unterschiedlicher Meinung ist. Also wenn ich nur mit Leuten reden wird, die hundertprozentig meiner Meinung wären, dann wäre mir ziemlich fad. Dann würde ich nämlich nur mit mir reden. Das funktioniert nicht. Darum das auch sichtbar machen, den Jugendlichen auch zeigen, dass das möglich ist. Nicht nur dieser „Us vs. Them“ – der im Boulevard hauptsächlich auch vorkommt und natürlich das Grundelement einer extremistischen Erzählung ist funktioniert. Es funktioniert auch die Begegnung, der Humor des Miteinander auskomme. 

 

Ein Thema, dass zu viel Streit, Angst und Unsicherheit unter Jugendlichen führt, ist der Nahostkonflikt. Der Krieg in Gaza bildet auch stark über Social Media ab. Viele Jugendliche können nicht fassen, dass 2024 vor laufender Kamera Frauen, Kinder und Männer sterben. Der Sozialarbeiter sieht es auch als Teil seiner Aufgabe mit den Jugendlichen in Dialog zu treten. 

Fabian Reicher: Was uns aufgefallen ist oder auch in der offenen Jugendarbeit in Wien aufgefallen ist, dass die Kids wenig drüber reden, aus Angst, eben auch in ein bestimmtes Eck gestellt zu werden oder bewertet zu werden oder kriminalisiert zu werden. Und man muss sagen, sie haben vollkommen Recht damit, ist sehr, sehr gescheit, sich auch da zurückzuhalten, weil es passiert. Aber es ist natürlich ein Problem, wenn man nicht über Gefühle, über Ängste, über Emotionen nicht sprechen kann. Das ist natürlich ein Problem. Das heißt, das, was wir sehr stark versuchen, ist natürlich, Räume zu schaffen, die frei von Bewertung sind, wo die Kids einfach nur sagen können, was sie sich denken, was sie fühlen, ohne dass sie dann gleich bewertet werden. Oder dass man gleich sagt -   das darfst du nicht sagen, das ist schlimm usw., sondern nächsten Schritt, dass man gemeinsam schaut. Okay, ein Unrecht rechtfertigt natürlich kein anderes, das ist ganz wichtig. Also diese Räume muss man dann natürlich schon auch positionieren. 

Aber ganz grundsätzlich funktionieren da Common Ground Ansätze ganz gut und das ist kein einziger Mensch sollte sterben um besten Fall - zumindest keine ZivilistInnen. Zivilisten auf beiden Seiten natürlich.

 

Viele junge Menschen fühlen sich in Österreich machtlos oder auch wütend, wenn sie die Bilder aus Nahost sehen. Fabian Reicher hat schon vor Jahren festgestellt, dass es hilft, wenn Jugendliche erkennen, dass sie etwas für andere tun können.  

Fabian Reicher: Wir haben das schon mehrmals Spendenprojekte gemacht, tatsächlich auch zu Gaza. 2014 waren es auch Bomben auf Gaza. Und die Bilder waren zwar nicht so viele, aber es gab sie damals noch auf YouTube. Und die Kids waren natürlich auch emotionalisiert und haben dann natürlich auch Ungleichwertigkeitserzählungen verbreitet. Irgendwann habe ich dann mal wirklich gesagt okay, Leute, es reicht. Ich find es super, dass ihr euch für Menschen interessiert, die leiden wird, dass ihr euch mit ihnen solidarisiert, dass ihr für die einstehen wollte, sie helfen wollt. Aber so wie ihr das macht, mit diesen Aussagen und auch mit diesen Ideen, die sie dann schon hatten, schadet ihr einerseits euch selber, hilft den Menschen überhaupt nicht und ein Unrecht rechtfertigt kein anderes Unrecht. So, es gibt euch nicht das Recht hier irgendwelche Leute zusammenzuschlagen, die können genauso wenig dafür was dort passiert. So, drum mach mal lieber was, was sie sich dann überlegt haben, so quasi, das haben wir zusammen überlegt war Spenden zu sammeln. Und haben dann insgesamt 2.000 € für den palästinensischen Roten Halbmond gesammelt. Wir haben es gesammelt? Das waren damals 30 Jungs ungefähr, die da beteiligt waren, im Rahmen des Burschentages bei Backbone – mobile Jugendarbeit, liebe Grüße an die Kolleginnen. Wir haben Marmelade gekocht und es war sehr abenteuerlich mit 30 Jungen Marillenmarmelade zu kochen. Es war sehr inklusiv. Jeder der da war, hat einmal umgerührt oder eine Marille entkernt, war dabei und hat mitgeholfen und war unglaublich, was da entstanden ist. Sie waren sehr schnell weg von der Emotionalisierung und man konnte auf einmal viel besser drüber reden zu. Gerade auch der Common Ground Ansatz hat super funktioniert. Und was wir in Wirklichkeit gemacht haben. Wir haben uns auch die Bedürfnisse dahinter angeschaut und haben alternative Möglichkeit gegeben: Das Bedürfnis war Menschen zu helfen. Und wir haben die Möglichkeit gegeben, Menschen zu helfen, statt mit der Waffe, mit dem Kochlöffel. Aber sonst? Das Bedürfnis dahinter ist das gleiche gewesen. 

 

Fabian Reicher kennt die Gründe, warum sich junge Männer an radikale Gruppen wenden. 

Fabian Reicher: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das Bedürfnis nach Action, Abenteuer Also das heißt, wenn ich herausfinde, gemeinsam mit den Jugendlichen, welche Bedürfnis steckt, dahinter, dann kann ich auch versuchen, dieses Bedürfnis alternativ zu befriedigen. 

 

Zur Arbeit des Sozialarbeiters gehört es auch Gegennarrative zu recherchieren. Einer davon ist der albanische Ehr-Kodex „Besa“ 

 

Fabian Reicher: Wenn ich an eine Tür von einem albanischen Haushalt quasi klopfe, muss der hinter der Tür mich als Gast empfangen und für mein Wohl sorgen und sogar mit seinem Leben für mich einstehen. Das ist ein albanisches Ehr-Konzept. Davon haben die wenigsten gehört, wovon allerdings sehr viele gehört haben, sind diese Blutrachegeschichten, die es natürlich auch gab und gibt, zum Teil in Albanien. Und ganz grundsätzlich ist das Thema Ehre ein großes, wichtiges Thema bei den Kids, mit denen ich arbeite. Bei denen ist es meistens sehr positiv besetzt. Bei mir ist es sehr negativ besetzt. Also für mich ist Ehre der Begriff verbrannt durch meinen biografischen Zugang. Auch dass ich hier in Österreich geboren bin, aufgewachsen bin, mich sehr stark mit der Geschichte auseinandergesetzt habe und Ehre habe ich immer mit der SS konnotiert, darum war das für mich oder mit patriarchalen Strukturen usw. So, jetzt kann ich das so finden. Allerdings bringt es mir halt in der Arbeit mit den Jugendlichen nichts. Ich kann jetzt probieren, ihnen den Begriff Ehre wegzunehmen oder das zu dekonstruieren. Es wird aber nicht funktionieren, wenn er bei ihnen positiv besetzt ist. Darum, was wir uns versucht haben, ist gemeinsam mit den Jugendlichen uns den Begriff einfach nochmal alternativer anzuschauen. Was bedeutet denn Ehre noch alles? Und neben Blutrache bedeutet es zum Beispiel auch BESA, nämlich dass ich mein Wort halte, ein Versprechen zu geben, für den anderen einzustehen, Menschen zu retten, Menschen zu unterstützen, die in Not sind. Das beruht in Wirklichkeit darauf, kulturell gesehen. Albanien ist ja natürlich ein sehr unwegsamen Land, dass jeder, der schon in Albanien war, richtig nette Leute, voll schön, aber sehr unwegig. Und früher hat man ewig lang gebraucht, um vom Norden in den Süden zu kommen über die Berge - darum waren die Leute darauf angewiesen, wenn sie auf der Reise sind und die Nacht hereingebrochen ist, dass sie, wenn sie an eine Tür geklopft haben, dass die ihnen dann auch aufgemacht haben und sie dort bewirtet haben, quasi so, sonst werden die meisten Reisenden gestorben. So, und daraus ist das entstanden. Das macht voll Sinn, sich solche Sachen aber auch mit den Jugendlichen gemeinsam anzuschauen, Weil diese Geschichten sind nicht nur bei mir oder auch bei uns Pädagoginnen und Pädagogen jetzt nicht das, was man aus dem Effeff schütteln kann. Auch die Kids haben meistens eher die reaktionären Elemente der Ehr-Konzepte übernommen. Einerseits weil es in der Jugendphase, doch spannender ist so das krasse harte sich anzuschauen. Und andererseits, wenn man Tschetschenien zum Beispiel nochmal nimmt durch Krieg, Kolonialisierung, Flucht, Gewalt, Terror natürlich die progressiven Anteile einer Kultur nach und nach verloren gehen und die Möglichkeit, die wir jetzt hier haben oder die die tschetschenische Diaspora Community jetzt hier hat, ist tatsächlich die progressiven Elemente wieder reinzuholen. Und da helfe ich gern mit, ist voll spannend. 

 

Fabian Reicher betont, dass Radikalisierung sich bei jedem anders äußern kann. Es gibt aber Merkmale, die häufig auftreten. 

Fabian Reicher: Es fängt immer an bei einem gewissen Unmut. Das kann sein aufgrund von Erlebten, von Dingen, die ich erlebt habe Erfahrungen, Rassismus, Diskriminierung, Krieg, Terror. Aber es kann natürlich auch das subjektive Gefühl sein - Überlegt euch, wie es bei euch war, als ihr jung war- mit der Adoleszenz. Das ist halt auch ein Strukturmerkmal. Man weiß nicht wo soll man hin in dieser Welt? Wo ist mein Platz? Welche Perspektiven gibt es überhaupt? Wenn man sich jetzt die Welt anschaut, beneide ich die jetzige Generation nicht. Da ist dieser Unmut und dieser Unmut wird dann eingebettet in eine Geschichte. Das heißt es ist klar, dass es dir so geht. Das sind die Schuldigen, und das ist die Lösung. Und die Lösung bezieht sich meistens dann auf weitere Entfremdungsmechanismen. Also Extremisten versuchen wirklich, die Leute aus ihrem Umfeld zu entfremden. Ähnlich wie bei Sekten ist das. Das betrifft einerseits die Familie, betrifft aber natürlich auch Freundinnengruppen, andere Aktivitäten usw. Also je besser Jugendliche angebunden sind und je besser sie ihre Identität auf unterschiedlichen Ebenen aufbauen - da bin ich der Fußballer, da bin ich der Schüler, da bin ich der Sohn, da bin ich so auf der Ebene, desto safer sind sie. Wenn die Kids nur mehr die Identität auf einem einzigen Thema aufbauen, wenn sie nur bei einem einzigen Thema sprechmächtig sind, auch nur mit Leuten unterwegs sind, für die dieses Thema auch wichtig ist, dann wird es gefährlich. Ich kenne schon einige Kids, die einfach nach Syrien gefahren sind, ohne sich wirklich viel zu überlegen damals 2014. Einfach nur weil sie gegen den Assad kämpfen wollten, und die waren der Hinterfragung ihres Weltbildes nicht mehr zugänglich. Dass das vielleicht nicht die beste Idee ist.

 

Radikale Prediger sprechen gezielt Jugendliche an, die zum Islam konvertiert sind. 

Fabian Reicher: Natürlich bin ich als Konvertit, wenn ich nicht aufgewachsen bin mit der Religion, wenn ich vielleicht auch niemanden habe, der den ich fragen kann und wo immer, bis anhalten kann, dann bin ich natürlich sehr vulnerabel für die Ansprache von extremistischen Menschen, die mir sagen So und so ist deine Religion. KonvertitInnen sind zum Teil einfach vulnerabler von extremistischen Gruppen abgeholt zu werden. Das ist das eine: Das andere ist das vielfach tatsächlich nicht das bestimmende Bedürfnis dahinter - Glaube & l Spiritualität ist, sondern Aktion und Bruch und ich tatsächlich mit dem Thema Islam halt sehr gut provozieren kann. 

 

Versuchten früher junge Menschen über Musik, Tattoos und Haarschnitt Erwachsene zu provozieren, passiert das heute auch mit Aussagen über Islam, Judentum und Rechtsextremismus. Doch was rät Fabian Reicher Menschen, die ernsthaft besorgt sind, dass sich eine Jugendliche oder ein Jugendlicher radikalisiert hat? 

Fabian Reicher: Was wir uns ganz grundsätzlich wünschen, ist: Wenn Kids jetzt auffällig werden, mit extremistischen Slogans oder Symbolen oder anderen Formen der Provokation gelassen zu bleiben, nicht sofort quasi in einen Aktionismus überzugehen, sondern vielleicht die Jugendlichen im ersten Schritt fragen: Wie hast du das überhaupt gemeint? Also jetzt haben wir sehr oft Fälle gehabt, wo Lehrerinnen anrufen. Sie haben Kids gesehen, die irgendwas gezeichnet haben. Dann ist das Erste, was wir sagen: Habt ihr die Jugendlichen gefragt, warum sie das gezeichnet haben und die Antwort ist oft. Nein. Dann sagen wir – Dann fragt doch einmal. Wenn ich zum Beispiel aus einem Kriegsgebiet kommen und jetzt hier angekommen bin und hier in Sicherheit bin, zum Ersten Mal, dann kann ich erst mal meine Trauma verarbeiten. Sachen zu zeichnen, kann da eine Möglichkeit sein. Das ist, wenn wir der erste Schritt. Der zweite Schritt wäre dann tatsächlich mal mit den Kolleginnen und Kollegen reden. Was haben wir da für ein Problem? Ist das ein pädagogisches Problem? Ist das ein psychologisches Problem? Wie schaut das das rechtlich aus. Steckt da vielleicht tatsächlich mehr dahinter? Ist denn Verdacht auf Radikalisierung da? Dann gern bei uns anrufen und dann schauen wir uns das gemeinsam an und erst dann, im nächsten Schritt würde ich tatsächlich Schritte setzen. Immer gleich die Polizei zu rufen oder den Verfassungsschutz und die Kids zu kriminalisieren, bringt tatsächlich aus unserer Sicht nicht sehr viel.Gerade wenn es um provozieren usw. geht, ist es ja vielleicht auch das Bedürfnis, das dahintersteckt nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Das Ding ist, das müssen wir auch dazusagen, Extremismus ist aber ein schwieriges Thema. Wenn es um Islamismus geht, haben wir sofort irgendwie die IS-Propaganda im Kopf. Wenn es um Rechtsextremismus geht, haben wir natürlich immer sofort den Nationalsozialismus im Kopf. Das ist auch wichtig und gut so, dass wir diese Sache im Kopf haben. Aber der 12-jährige will vielleicht auch provozieren. Wir haben alle eine pädagogische Ausbildung, wir haben alle ein gutes pädagogisches Gespür - verlassen uns darauf! „Nur“, weil Extremismus ein Thema ist, ist es vielleicht nur ein 12-jähriger, der vielleicht provozieren will.

 

Die Beratungsstelle Extremismus behandelt die Anfragen österreichweit anonym, vertraulich und kostenlos. Die Hotline ist von Montag bis Freitag von 10:00 bis 15:00 Uhr erreichbar. Wir haben in dieser Folge über Burschen und junge Männer gesprochen. Aber natürlich gibt es bei der Beratungsstelle Extremismus auch Initiativen, die sich an Mädchen und junge Frauen richten. Erwähnen möchte ich die Initiative „Girls*Matter“ – Extremismusprävention für Mädchen * und junge Frauen -  die auch auf Instagram zu finden ist. Angeboten werden etwa Workshops für Mädchen und jungen Frauen, wo die Resilienz gegenüber extremistischen Erzählungen und Empowerment im Fokus stehen. Weiters sollen zwei Dialoggruppen in Wien und St. Pölten gegründet werden. Darüber möchte ich eine eigene Podcastfolge machen. Das Schlusswort in dieser Folge gehört Fabian Reicher: 

Fabian Reicher: Ich finde grundsätzlich haben wir den schönsten Job der Welt. Man kann Jugendliche dabei begleiten, die intensivste und prägendste Phase quasi zu durchzuleben, quasi die Adoleszenz. Die Kids haben es nicht leicht, das wissen wir, glaube ich alle. Ich bin froh, dass ich in den 90er Jahren aufgewachsen bin, drum glaube, was die Jugendlichen wirklich brauchen, ist einfach Anerkennung, dass sie sich bemühen, dass sie trotzdem stabil sind, stabil bleiben. Viel Wertschätzung und Unterstützung.

 

Mehr Informationen zur Beratungsstelle „Extremismus“ finden Sie online unter: www.beratungsstelleextremismus.at Die Links zu den Initiativen der Beratungsstelle Extremismus, zu den Filmen und Büchern, finden Sie in den Shownotes zu dieser Folge. Wenn Ihnen diese Folge gefallen hat, empfehlen Sie uns bitte weiter. Unseren Podcast gibt es auf allen gängigen Podcastplattformen, wie Spotify, Apple Podcast und auf YouTube zu hören. Wir würden uns auch über eine gute Bewertung freuen. Auf ein baldiges Wiederhören freut sich Sandra Knopp.