Dabei sein im Arbeitsleben - Chancen für alle! Der Podcast von dabei-austria.

Inklusion statt Illusion: Gerda Reiter und ihr Einsatz für Chancengleichheit

Episode Summary

Wie kann radikale Inklusion gelebt werden? Wie finden mehr Frauen mit Behinderung existenzsicherende Jobs? Was sind inklusive Arbeitszeitmodelle? Um all das ging es beim 3. Forum "Berufliche Teilhabe für Frauen mit Behinderungen". Gerda Reiter arbeitet bei innovia und leitet das NEBA-Betriebsservice Tirol. Außerdem ist sie im Vorstand von dabei-austria. Ein Gespräch darüber, dass Inklusion uns alle angeht. UND: Dass Frauen mit Behinderung in allen Bereichen mitgedacht werden müssen - von der Gesundheitsvorsorge bis zur Weiterentwicklung.

Episode Notes

Am 3. Forum „Berufliche Teilhabe für Frauen mit Behinderungen“ nahmen Anfang März in Wien rund 170 Menschen vor Ort im ÖGB-Catamaran teil. Erstmals wurde die Veranstaltung auch hybrid veranstaltet und gestreamt.  Im Fokus stand die Frage, wie radikale Inklusion gelebt werden kann, wie mehr Frauen mit Behinderung existenzsicherende Jobs finden und warum es dafür inklusive Arbeitszeitmodelle braucht. 

Gerda Reiter arbeitet bei innovia und leitet das NEBA-Betriebsservice Tirol. Außerdem ist sie im Vorstand von dabei-austria. Ein Gespräch darüber, dass Inklusion uns alle angeht. UND: Dass Frauen mit Behinderung in allen Bereichen mitgedacht werden müssen - von der Gesundheitsvorsorge bis zur Weiterentwicklung. 

2 wichtige Learnings

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Fotocredit - dabei-austria: ©Harald Lachner

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Episode Transcription

Herzlich Willkommen, sagt Sandra Knopp. Am 3. Forum „Berufliche Teilhabe für Frauen mit Behinderungen“ nahmen Anfang März in Wien rund 170 Menschen vor Ort teil. Erstmals wurde die Veranstaltung auch hybrid veranstaltet und wurde gestreamt. Im Fokus stand die Frage, wie radikale Inklusion gelebt werden kann, wie mehr Frauen mit Behinderung existenzsicherende Jobs finden und warum es dafür inklusive Arbeitszeitmodelle braucht. Eine der Teilnehmerinnen an der Podiumsdiskussion und ihren Zugang zu beruflicher Inklusion im Job möchte ich Ihnen in dieser Folge näher vorstellen. Gerda Reiter ist bei innovia Leiterin des Betriebsservice und seit 2024 im Vorstand von dabei-austria. 

Reiter: Es macht mir große Freude auch dieses Umdenken in den Unternehmen zu bewirken, weil ich das Gefühl habe, das ist ein großer Hebel, den wir da haben. Wir brauchen eben Unternehmen als Verbündete und wir merken, wenn was passiert, wenn dort etwas in Gang kommt, dann kommt meistens mehr in Gang. Dann gibt es nicht eine Stelle, sondern dann können wir ganz viele Stellen schaffen in größeren Unternehmen und dann passiert was mit der Unternehmenskultur, dann passiert was gut ist für alle im Unternehmen. Das finde ich oft so wichtig. Inklusion geht uns alle an, aber Inklusion bringt auch allen was.

Mod: Gerda Reiter ist bei dabei-austria für die Fachbereiche „Erwachsene und Wirtschaft sowie Frauen mit Behinderung“ zuständig. Die Innsbruckerin arbeitet seit 2007 bei innovia, einem gemeinnützigen Unternehmen, das von Vera Sokol und Johannes Ungar begründet wurde. Gerda ist von Beginn an dabei. Heute leitet sie das Betriebsservice, das Betriebe unterstützt, die Menschen mit Behinderung beschäftigen wollen. 

Reiter: Um Betriebe als Verbündete zu gewinnen, muss man sie vom Thema Inklusion überzeugen und dass das ein ganz wichtiges Thema ist und deshalb das Thema auch auf der Etage der Vorstände und Geschäftsführenden anzusiedeln ist, die muss man als erstes als Verbündete gewinnen. Weil wenn die dahinterstehen, dann kann man das Thema wirklich in einem Unternehmen verankern und Prozesse in Gang bringen, die ein Unternehmen eben auf diesem Weg dann verändern, um ein wirklich inklusives Unternehmen zu werden. Weil ich glaube letztendlich geht es darum, dass Unternehmen wirklich inklusiv sind. Dann haben sie einen anderen Zugang zum Thema Behinderung und eben auch zum Thema Beschäftigung von Frauen mit Behinderungen. Das ist ganz was anders, wie wenn man einzelne Stellen nur in einem Unternehmen ausschreibt. Weil es geht darum, Menschen mit Behinderungen, aber auch speziell Frauen mit Behinderungen, bei allen Themen mitzudenken. Bei Weiterbildungen, bei betrieblicher Gesundheitsförderungsmaßnahmen. Aber es geht natürlich auch darum, Stellen so auszuschreiben, dass sie für Frauen mit Behinderungen individuell angepasst werden können.

Mod:  Je starrer die Anforderungen und Tätigkeitsprofile, desto enger wird der Pool an Bewerbern und Bewerberinnen. Stellenanzeigen können gemeinsam mit den Personalverantwortlichen im Unternehmen aufgesetzt werden.

Reiter: Es kann verschieden sein. Wir müssen unterscheiden, es gibt hochschwellige Stellen, es gibt natürlich auch Frauen mit Behinderungen, die sehr gut qualifiziert sind oder es geht auch vielleicht um recht niederschwellige Stellen. Bei den niederschwelligeren Tätigkeiten ist es besonders wichtig, dass man Tätigkeitsbereiche sammelt und schaut, was ist auf der Unternehmenseite, was man braucht, und dann aber auch viel Flexibilität an den Tag legt, um zu schauen, wer bewirbt sich auf diese Stelle, bewerben sich Frauen mit Behinderungen auf diese Stelle und wie kann man dann diese Stellen von der Tätigkeit her und dem Stundenausmaß so individuell anpassen. damit das zu einer nachhaltigen Beschäftigung von Frauen mit Behinderungen führt. Dass jemand dauerhaft in einem Unternehmen bleiben kann und dort einen guten Arbeitsplatz hat. 

Mod: Über Stellenausschreibungen werden die Inklusionsfachdienste und alle anderen Projekte informiert, die Menschen mit Behinderung auf dem Weg in den 1. Arbeitsmarkt unterstützen. Diese schlagen passende Bewerberinnen und Bewerber vor. Außerdem stehen die Inserate auf der Online-Jobbörse des NEBA-Betriebsservice. Dort können sich Interessierte direkt bewerben. Gerda Reiter erklärt, dass es am Weg zum inklusiven Unternehmen ein gewisses Maß an Offenheit braucht. 

Reiter: Es geht darum, Tätigkeiten zu sammeln, die im Unternehmen erfüllt werden müssen, sozusagen. Oder mit dem anderen Blick hinzuschauen, kann man bestehenden Fachkräfte vielleicht auch entlasten, wenn die Aufgaben abgeben, die sie nicht unbedingt selber machen müssen. Wenn es vor allem um das Schaffen von einfachen Tätigkeiten geht. Die werden dann gesammelt und die werden sozusagen ausgeschrieben als Tätigkeitspaket. Dann wird erst geschaut, sobald es die ersten Bewerbungen und Interessentinnen gibt, wie passt es jetzt zusammen. Aus dem kreiert man dann Stellen, die unterschiedliche Umfang von der Zeit haben und je nach Interesse und Möglichkeit der Person, die sich bewirbt, diese Tätigkeiten dann auswählt. Idealerweise passt es dann zusammen. 

Mod: Die Vernetzung mit jenen Projekten, die Menschen am Weg zum Job oder im Job unterstützen, geht über die Stellenausschreibung hinaus. 

Reiter:Gerade das Thema Teilqualifizierung oder Teilzeitlehre oder eben verlängerte Lehre. Zum Beispiel, wenn das ein großes Thema ist in einem Unternehmen. Dann machen wir einen Input gemeinsam mit der Berufsausbildungsassistenz, die da ja die Expertinnen dafür sind. Oder wir organisieren für Firmen immer wieder Veranstaltungen, solche Meet - und Match -Veranstaltungen. Und da müssen wir natürlich in einem engen Austausch stehen, wenn es für Jugendliche ist, wenn es um Lehrstellen geht, mit jenen Projekten, die Jugendliche begleiten, damit die entsprechenden Jugendlichen dann auch für die Veranstaltung vor Ort sein können. 

Mod: Gerda Reiter und ihre Kolleginnen und Kollegen leisten wichtige Sensibilisierungsarbeit. Denn oft ist Unternehmen bei der Ausschreibung gar nicht bewusst, dass sie bei niederschwelligen Tätigkeiten zu hoch ansetzen.

Reiter: Zum Beispiel über Jobportale, die nur sehr selten barrierefrei sind. Da scheitern viele dann schon wirklich einfach an der Barrierefreiheit und auch an den technischen Voraussetzungen. Für sehr einfache Tätigkeiten muss ich nicht unbedingt ein Laptop zu Hause haben. Und wenn ich jetzt so ein Jobportal zum Beispiel habe, wo ich ein PDF hochladen muss, das wird mit dem Handy schon sehr, sehr schwierig. Dann grenze ich eigentlich dadurch, würde ich schon Personen ausgrenzen, die vielleicht Interesse an dieser Stelle hätten, aber schon an dieser Hürde scheitern. Also es gilt wirklich Unternehmen auch da mitzunehmen, eben niederschwelliger auszuschreiben oder möglichst offen auszuschreiben, sehr flexibel zu sein, um in einem Job -Design -Prozess dann wirklich die Tätigkeiten mit den Möglichkeiten der Person in Übereinstimmung zu bringen. 

Mod: Gerda Reiter wurde 1970 in Innsbruck geboren. Sie lebt mit einer chronischen Erkrankung. Diese veränderte ihr Leben mit 23 Jahren schlagartig. Damals studierte sie Italienisch, Geografie- und Wirtschaftskunde in Innsbruck auf Lehramt. Sie musste das Studium unterbrechen, kämpfte sich aber mit Therapie und sportlicher Disziplin zurück. Das Studium schloss sie ab, aber damals gab es – heute kaum zu glauben - einen LehrerInnenüberschuss. Gerda Reiter zog es in die Erwachsenenbildung. 5 Jahre war sie als Trainerin selbstständig – sie hätte sich damals etwas anderes gewünscht. 

Reiter:  Ich habe keine Anstellung bekommen. Es war die Zeit, wo die ersten Referenten -Trainerinnen wirklich in Anstellung gekommen sind, aber ich habe weiterhin immer noch auf Werkvertragsbasis gearbeitet. Und das war schon eine sehr schwierige, sehr prekäre Situation. Ich habe einen wahnsinnigen Druck gehabt, weil ich wusste, ich darf eigentlich nicht krank werden. An dem Tag, an dem ich krank bin, verdiene ich nichts. Oder auch die Sommerpausen. Man hat als Trainerin im Sommer einfach ein bisschen ein Sommerloch, wie man so schön sagt, und da habe ich dann gewusst, ich verdiene eigentlich nichts oder verdiene nur sehr, sehr wenig. Also es war sehr harte Zeit und irgendwie habe ich dann damals mir entschieden, an dem System muss man was verändern. Es kann nicht sein, dass Menschen mit Behinderungen so wenig Chancen am Arbeitsmarkt haben, oder ich als Frau mit Behinderung so wenig Chancen am Arbeitsmarkt habe, obwohl ich so gut ausgebildet bin.

Mod: Anfang der 2000er Jahre macht sie eine Coaching- und Beratungsausbildung beim ÖZIV Tirol und baute in Imst eine Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung mit auf. Als sie 2007 bei Innovia beginnt, ist das Team gerade mal zu viert. Heute hat innovia in Tirol sieben Angebote mit 63 Beschäftigten an 10 Tiroler Standorten. Wichtig ist der Peer-Ansatz – Menschen mit Behinderung sind in den Angeboten Schlüsselarbeitskräfte. Gerda Reiter hat zuvor beim Programm Jobfit für Mädchen gearbeitet. Bis heute liebt sie es etwas in Unternehmen bewegen zu können. 

Reiter: Wir haben erst vor kurzem in einem Unternehmen, da war sehr viele Tätigkeitsbereiche, einerseits im Verkauf, andererseits im Lager, wo man zu Beginn nicht gewusst hat, wie viele Stellen werden das. Also man hat gewusst, das sind die Aufgaben, die erfüllt gehören. Aber wie viele Personen man darauf beschäftigt, das kommt eben ganz darauf an, für welchem Stundenausmaß die dann arbeiten können. Und das haben wir so ausgeschrieben. Mittlerweile konnten fünf Stellen geschaffen werden und fünf Stellen von Menschen mit Behinderungen besetzt werden. Vier davon von Frauen und eben eine von einem Mann mit Behinderung in ganz unterschiedlichem Stundenausmaß.

Mod: Zwei Frauen hatten einen höheren Unterstützungsbedarf – sie werden von Assistenz am Arbeitsmarkt begleitet und können so ihrer Arbeit sehr gut nachgehen. Eine Frau mit Fluchthintergrund hatte ihre Qualifikation niedriger eingestuft als sie war. Das Unternehmen erkannte ihr Potenzial und setzt sie nun im Marketing ein. Ihre ursprüngliche Stelle kann wieder ausgeschrieben werden. Wenn Gerda Reiter zu Sensibilisierungstrainings in Betrieben ist, kommt es oft zu einem AHA-Effekt. 

Reiter: Also wenn ich selber in Unternehmen komme, ich bin meistens nicht die erste Person. Dadurch, dass ich die Projektleitung bin, ich habe nicht so viele Ressourcen, um jetzt wirklich ständig in der Beratung zu sein, aber ich mache sehr häufig Sensibilisierungsmaßnahmen in Unternehmen zum Thema chronische Erkrankung oder mache sehr gerne Dinge für Führungskräfte. Und wie du sagst, ist es für viele sehr ungewöhnlich. Man merkt einfach, dass sie Vorurteile im Kopf haben bezüglich Frauen mit Behinderungen oder Frauen mit einer chronischen Erkrankung, wie ich es bin, oder generell vielleicht gegenüber Frauen in Führungspositionen. Also ich glaube, dass sich da vieles überschneidet und dass sie erst einmal erstaunt sind, dass sozusagen ich die Leitung bin und nicht ein Mann die Leitung ist oder eine Person ohne Behinderung in der Leitung ist. Aber das hat einen positiven Effekt, weil letztendlich zeigt es einfach auf, was möglich ist und es ist immer wichtig, positive Dinge aufzuzeigen. Es ist wichtig, auch vieles hinzuweisen, was schlecht läuft, vieles auch zu kritisieren und anzusprechen, aber ich glaube, es ist ja immer gut, als Rollenmodell sozusagen aufzutreten und zu zeigen, was möglich ist.

Mod:  Die Tirolerin ist überzeugt, dass Inklusion uns alle angeht. Das muss manchmal aber erst bewusst gemacht werden. Das erlebte sie erst kürzlich wieder bei einem Workshop zum Thema „Chronische Erkrankung“ in einem Betrieb. 

Reiter:  Und dann war es der Geschäftsführer, der dann gemeint hat, na, das können wir uns also chronisch kranken, wenn dann jemand immer krank ist. Also das ist dann gleich schon die erste Assoziation. Ich habe gar nicht gesagt, dass es irgendwie immer so ist, aber das wird einem sofort unterstellt. chronisch kranke Menschen sind einfach immer im Krankenstand und hat dann gleich gesagt, ja das würde bei uns gar nicht gehen, wenn dann die chronisch kranke Person im Krankenstand ist, die kommt in der Früh nicht, dann muss ich 35 andere heim schicken. Es ist unmöglich, sowas können wir uns nicht vorstellen. Und dann hat er an, es waren nur Führungskräfte im Raum und eine Führungskraft, die sich gemeldet hat, eine Frau, hat dann gleich darauf gesagt, also ich muss jetzt sagen, ich finde es so ein wichtiges Thema, dass wir endlich über Krankenstandsvertretung nachdenken. Ich habe mich auch schon halbtot in dieses Unternehmen geschleppt, weil ich gewusst habe, es bricht sonst was zusammen, wir können das System nicht aufrechterhalten. Aber es ist dringend an der Zeit, dass wir uns mit dem Thema beschäftigen, weil Krankenstände gehen uns alle an und nicht nur chronisch kranke Menschen gehen in eine Krankenstunde, sondern wir haben auch die Grippe, wir haben auch, uns geht es auch nicht immer gut. Wir haben Kinder, die auch einmal, wo wir in Pflegefreistellung gehen müssten eigentlich und wir machen es nicht, weil das System im Unternehmen nicht etabliert ist. Ich finde, so ein Beispiel sieht man dann ganz schön, welche Denkprozesse da auch angestoßen werden. Und dass man dann über Dinge nachdenkt, die man sowieso nachdenken hätte müssen, aber es kommt jetzt nochmal über das Thema Inklusion, wird es erst so richtig präsent und über unsere Begleitung und Unterstützung.

Mod:  Das NEBA Betriebsservice begleitet Unternehmen über die Einstellung hinaus. Bei geänderten Jobanforderungen werden Jobcoachings organisiert und bei Bedarf weiterhin zu Förderungen, barrierefreier Arbeitsplatzgestaltung und rechtlichen Rahmenbedingungeninformiert. Es gibt viele Gründe, warum sich Unternehmen für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung interessieren. Der besondere Kündigungsschutz spielte in den letzten Jahren eher eine untergeordnete Rolle. 

Reiter:  Eigentlich ist es die Suche nach Personal, mit der sich die Firmen an uns wenden. Wir leben einfach in einer Zeit des demografischen Wandels. Wir wissen, es kommen immer weniger junge Menschen am Arbeitsmarkt nach. Viele ältere gehen in Pension und größere Altersgruppen gehen in Pension, immer sieben Jahre nachkommen. Firmen haben einfach, viele Unternehmen sind auf Suche nach Arbeits - und Fachkräften. Und das ist meistens das erste Motiv, um sich an uns zu wenden. Das zweite Motiv, was auch oft vorkommt, ist, dass sie sich eine Diversity -Strategie überlegt haben und generell ein großes Bekenntnis da ist. Sie wollen divers, sie wollen vielfältiger werden. Und sie kommen darauf, dass sie diese Dimension Behinderung noch gar nicht so mitgedacht haben in ihren Vielfältigkeitsprogrammen. Sie haben sich vielleicht für Frauen und Männer was überlegt oder unterschiedliche Geschlechtsidentitäten oder auch sexuelle Orientierung ist vielleicht immer mehr Thema. Aber eben das Thema Behinderung ist eigentlich noch nicht wirklich so Thema. Oder sie kommen im Zuge der Diversitätsstrategien drauf, dass sie keine Förderprogramme haben für Menschen mit Behinderungen, sich noch nichts überlegt haben und auch nicht wirklich barrierefrei sind und nicht wirklich zugänglich sind. Oder, dass sie nie Bewerbungen von Menschen mit Behinderungen bekommen und dann macht das ja auch was mit ihnen, weil sie merken, okay. Wir müssen anders ausschreiben. Wir müssen an die Zielgruppe herankommen. Wir erreichen sie nicht mit den Stellenausschreibungen, so wie wir es bisher machen. 

Mod: Wichtig ist es auch das Team am Weg zum inklusiven Betrieb mitzunehmen. Viele Menschen haben wenig Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung, weil es keine inklusive Bildung gibt über Potenziale und Bedarfe zu sprechen, räumt Vorurteile aus dem Weg. 

Reiter: Also damals war es bei mir egal, ob ich es angesprochen habe oder nicht, das war immer schwierig. Mein Studiendauer war deutlich länger, insofern war ein Lück im Lebenslauf. Und wenn ich es reingeschrieben habe, bin ich nie in die engere Wahl gekommen. Aber ich denke, die Zeiten haben sich verändert und wenn ich jetzt an die Unternehmen denke, mit denen wir arbeiten, die sind sensibilisiert, die wollen Menschen mit Behinderungen beschäftigen, da empfehlen wir dringend, dass Menschen das auch offenlegen, weil ich finde es schwierig. Wenn man dann eine Arbeitsplatzadaptierung macht, wenn man was anpasst oder auch von den Zeiten, von allem. Vielleicht mehr Homeoffice -Möglichkeit. Und im Unternehmen weiß man aber nicht, also dann ist es einfach schwierig, dass man da auch das Verständnis vielleicht kriegt von den Vorgesetzten oder auch vom Team. Ich erlebe nie, dass es Neid gibt, wenn man weiß, ok, da gibt es eine Person mit einer chronischen Erkrankung, für die ist der Arbeitsweg schwieriger, anstrengender. Die kann mehr im Homeoffice sein, das ist total okay. Aber wenn das Team das nicht wüsste und die eine Person darf ein bisschen mehr im Homeoffice sein wie die anderen, dann habe ich das Gefühl, dann haben wir sehr schnell diese Neiddebatte.

Mod: Frauen mit und ohne Behinderung arbeiten zu einem hohen Teil in Teilzeit. Zu Kinderbetreuung, Pflege und Haushalt spielt bei Frauen mit Behinderung auch die fehlende Barrierefreiheit im Job eine Rolle. Mit Teilzeitjobs finden viele kaum das Auskommen, im Alter droht Armut. Hier muss ein Umdenken geschehen. 

Reiter:  Ja, das ist ganz, ganz ein wichtiger Punkt, dass Frauen, die natürlich öfter nur Teilzeit arbeiten, eine Existenzsicherung dadurch erfahren können und dass es unbedingt eine Ausgleichszahlung braucht. Damit Menschen nicht über ihre persönlichen Grenzen gehen und sich gesundheitlich einfach auch schaden. Weil das ist was, was ich vorhin ja auch angesprochen habe. Das passiert leider gar nicht so selten, dass Personen, die gar nicht in der Lage sind, dauerhaft Vollzeit zu arbeiten, sich dann aus Existenzgründen gezwungen fühlen, mehr arbeiten, als ihnen gut tut und dann oft sehr, sehr lange ausfallen, weil sie einfach in einen Langzeit -Krankenstand dann wieder gehen. Also das würde ich mir unbedingt wünschen, dass die Politik das aufgreift und endlich da in ... inklusive Arbeitszeitmodelle möglich werden. 

Sandra: Also, dass quasi zum Beispiel auch Vollzeit gezahlt wird für einen Teilzeitjob, oder? Kann man das so sagen? Also, dass es dann eine Ausgleichszulage gibt, quasi. 

Reiter: im Grunde so ein bisschen nach dem Modell der Wiedereingliederungsteilzeit, die ja zeitlich befristet ist und wo man ja wieder aufstocken muss, wo man eben dann dauerhaft in Teilzeit bleiben kann, aber so eine Zuzahlung bekommt und das auch pensionsrechtlich sozusagen da auch ein Beitrag geleistet wird in die Sozialversicherung, damit dann auch die Pension nicht noch von dieser Teilzeit bezahlt wird. Das ist noch zusätzlich ein ganz wichtiger Punkt, schon sind wir wieder beim Thema Altersarmut. 

Mod: Inklusive Arbeitszeitmodelle zu schaffen, ist eine langjährige Forderung von dabei-austria. Denn der Artikel 27 der UN-BRK spricht Menschen mit Behinderungen das Recht zu, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Ein Thema, dass Gerda Reiter sehr wichtig ist, ist es Frauen mit Behinderung sichtbarer zu machen. Denn damit Unternehmen diese Zielgruppe mehr am Schirm haben, müssen diese dazu ermutigt werden sich zu bewerben. 

Reiter:  Viele Frauen trauen sich nicht, sich zu bewerben, auf Stellen, wenn sie nicht alle Anforderungen erfüllen. Und wir wissen, dass Männer da mehr Selbstbewusstsein haben. Ich glaube, es braucht die Sichtbarkeit von Frauen mit Behinderungen.

Mod: Auch mehr Mädchen- und Frauenspezifische Beratungsangebote können dabei helfen. Wichtig ist der Innsbruckerin, dass ihr Potenzial erkannt wird. 

Reiter:  Ich würde gerne das Thema Loyalität noch ansprechen. Ich weiß, dass viele versuchen, Menschen mit Behinderungen „zu verkaufen“, um zu sagen, ja, das sind die loyalsten Mitarbeiterinnen, die anderen gehen ihnen nach vier oder fünf Jahren wieder, aber Menschen mit Behinderung bleiben ein Leben lang. Das halte ich für keinen guten Ansatz, sondern ich wünsche mir, dass es diese Gleichstellung gibt, dass Menschen mit Behinderung die Flexibilität haben, die andere Menschen auch haben und dass sie, wie ich vorhin schon mal gesagt habe, vielleicht auch nicht den Dienstverhältnissen ausharren, die für sie gar nicht so ideal sind. Das müsste auch mitgedacht werden, dass Menschen mit Behinderungen eben genauso wechseln können wie andere. Dass man bei Menschenbindungen auch an Karrieremöglichkeiten denkt, so wie bei anderen Menschen und sie nicht da von vornherein ausschließt. Also, ich habt manchmal nur das Gefühl, es gibt so diese Idee, Menschenbindungen irgendwo zu platzieren und dann sollen sie dort ein Leben lang froh und dankbar sein, sie haben ja jetzt eine Stelle. Und man sieht gar nicht, welches Potenzial die Person mitbringt und was man vielleicht fördern könnte, eben auch über Qualifizierungen, die aber dann barrierefrei sein müssen, die zugänglich sein müssen, die auch vom Stundenausmaß passen müssen. Weil wenn jemand nur Teilzeit arbeiten kann, kann er ja nicht immer in der Vollzeit Fortbildung gehen, weil er vielleicht noch Kinderbetreuungspflichten an die Person hat oder weil sie einfach aufgrund von ihrem Energielabel nicht acht Stunden irgendwie durchhalten kann. Also da muss man dann einfach viel flexibler denken und nochmal viel offener denken. 

Mod: Was wünscht sich Gerda Reiter von der neuen Regierung? 

Reiter:  Ich wünsche mir in jedem Fall, dass sie nicht den Sparstift dort ansetzen und Systeme vielleicht jetzt runterfahren, die nur sehr schwer wieder zum Hochfahren sind. Weil gespart ist immer sehr schnell, aber man vergisst, dass es oft sehr lange braucht, bis sich etwas wirklich etabliert. Gerade jetzt auch, wenn ihr an die Beratung von Unternehmen denk es geht um einen Vertrauensaufbau. Es geht darum, verlässlicher Ansprechpartnerin zu sein für Unternehmen. Und sowas wieder einzustellen oder auch zu kürzen, fände ich eigentlich fatal. Denn Inklusion ist eben Menschenrecht, Inklusion ist so wichtig, Inklusion verändert die Gesellschaft, Inklusion verändert auch den Arbeitsmarkt zum Guten hin für alle, die am Arbeitsmarkt sind. Und ich wünsche mir unbedingt, dass die Finanzierung gesichert ist der Inklusionsfachdienste und aller Angebote, die Menschen mit Behinderungen auf den Arbeitsmarkt vorbereiten oder am Arbeitsmarkt unterstützen und begleiten. 

Mod: Den Bewerbungsprozess anzupassen, bedeutet zwar einen Aufwand, eröffnet aber in Zeiten des Fachkräftemangels auch den Zugang zu mehr Menschen: 

Reiter: Sie gewinnen natürlich einem Arbeitskräftepotenzial. Sie haben Zugang zu Menschen, die ihre Talente haben, wie andere Menschen genauso. Sie können einfach Stellen besetzen. Sie gewinnen wertvolle Mitarbeiterinnen. 

Mod: Das war ein schönes Schlusswort zu unserer Folge über die Beschäftigung von Frauen mit Behinderungen. Danke Gerda Reiter für ein sehr spannendes und informatives Gespräch. Informationen zu innovia, dem NEBA-Betriebsservice und zu dabei-austria stelle ich Ihnen in die Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und auf Wiederhören, sagt Sandra Knopp.