"Wir haben ein Mutproblem, kein Erkenntnisproblem", sagt die deutsche EU-Abgeordnete Katrin Langensiepen bei Ihrer Keynote am Forum "Berufliche Teilhabe von Frauen mit Behinderungen. Nach wie vor hindere Ableismus - also Glaubenssätze, Zuschreibungen und Vorurteile rund um das Thema die berufliche und damit die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung, im Speziellen Frauen mit Behinderung.
"Wir haben ein Mutproblem, kein Erkenntnisproblem", sagt die deutsche EU-Abgeordnete Katrin Langensiepen bei Ihrer Keynote am Forum "Berufliche Teilhabe von Frauen mit Behinderungen. Nach wie vor hindere Ableismus - also Glaubenssätze, Zuschreibungen und Vorurteile rund um das Thema die berufliche und damit die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung, im Speziellen Frauen mit Behinderung.
Veranstaltet wurde dieses Forum von dabei-austria und der FEM-Süd-Frauenassistenz. 200 Gäste also doppelt so viele, wie im Vorjahr, waren im ÖGB-Catamaran dabei.
Katrin Langensiepen hielt beim Forum die erste Keynote. Sie wurde 1979 in Langenhagen bei Hannover geboren und ist unter den EU-Abgeordneten eine der wenigen mit einer sichtbaren Behinderung. Sie lebt mit dem TAR-Syndrom. In dieser dabei-austria-Podcastfolge spricht Katrin Langensiepen über die bevorstehende EU-Wahl, die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung und ihre sozialpolitischen Ziele . Außerdem erklärt sie, warum es wichtig ist das Wort „Behinderung“ offen auszusprechen und nicht von „besonderen Bedürfnissen“ auszugehen.
Alt-Text: Links: EU-Parlamentarierin Katrin Langensiepen, Rechts: Podcasterin Sandra Knopp - Copyright: Michael Landschau
„Wir haben ein Mutproblem“
Herzlich Willkommen, sagt Sandra Knopp.
Katrin Langensiepen: „Ich bekomme Lob, Anerkennung für das, was ich erreicht habe, da es ja so schwer ist. Aber warum ist es schwer? Ich habe ja nicht drum gebeten, dass es schwer ist!“ „Und das sage ich auch immer ganz klar: Nicht jeder und jede muss Europaabgeordnete werden. Aber die Person sollte die Chance haben, es zu werden.“
Katrin Langensiepen ist seit 2019 EU-Abgeordnete für die Grünen im EU-Parlament und ist stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Wenn sie die Frage stellt: „Wie viele behinderte Menschen kennst Du?“, erhält sie oft die Antwort: Keine. Aber warum ist das so? Wo sind Menschen mit Behinderung? Nicht in der Mitte der Gesellschaft. Diese Worte stehen am Anfang ihrer Keynote, die sie beim Forum „Berufliche Teilhabe von Frauen mit Behinderungen“ am 7. März 2023 gehalten hat. Organisiert wurde diese Veranstaltung von dabei-austria und der FEM-Süd-Frauenassistenz. 200 Gäste also doppelt so viele, wie im Vorjahr, waren im ÖGB-Catamaran dabei. Das Interesse ist hoch, aber wieso braucht es im 21. Jahrhundert noch eine Veranstaltung, die das Potenzial von Frauen mit Behinderung am Arbeitsmarkt in den Fokus rückt? Dazu hat dabei-austria Geschäftsführerin Christina Schneyder, eine klare Meinung:
Christina Schneyder: Gleichberechtigte berufliche Teilhabe sollte eigentlich schon längst in der Mitte der Gesellschaft, in der Realität angekommen sein. Das ist es nicht, wie wir alle wissen! Und es ist insofern umso mehr erstaunlich, dass wir den Fachkräftemangel haben und trotz alledem scheinbar nicht auf dieses Potenzial dieser Frauengruppe zugreifen können. Ich stelle mir die Frage und gehe davon aus, dass Sie das auch tun: Warum ist das so? Und lassen Sie mich vielleicht nur einen Gedanken ganz kurz skizzieren, wohlwissend, dass die Problemlage natürlich deutlich vielschichtiger ist. Der Arbeitsmarkt ist genauso divers, wie Personen individuell sind und es benötigt individuelle Instrumente zur beruflichen Inklusion. Diese fehlen teilweise. Wir brauchen Rahmenbedingungen, Unterstützungsleistungen, die auf individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Und schon im „Forum berufliche Teilhabe“ im vergangenen Jahr ist der Bedarf nach einem beispielsweise inklusiven Arbeitszeitmodell sichtbar geworden, in Verbindung mit Individualförderungen wie Lohnausgleichszahlungen, um dem „Working Poor Problem“ entgegenzuwirken. Leider sind diese Anregungen nicht aufgenommen worden und genau aus diesem Grund haben wir das Forum „Berufliche Teilhabe für Frauen mit Behinderungen ins Leben“ gerufen. Wir wollen mit Ihnen gemeinsam die Bedarfe sichtbar machen und der Frage nachgehen: Was konkret braucht es für diese Personengruppe, um den Anteil an erwerbstätigen Frauen mit Behinderungen zu erhöhen? Und gleichzeitig wollen wir den Raum eröffnen für Gespräche, für Diskussionen, für Vernetzungen und vielleicht auch für die eine oder andere innovative Lösungsidee. Insgesamt wollen wir die berufliche Teilhabe von Frauen mit Behinderungen dadurch stärken.
Moderiert wurde das Forum „Berufliche Teilhabe von Frauen mit Behinderung“ von Barbara Sima-Ruml, sie ist Sachverständige für Barrierefreies Bauen und ist Lehrbeauftragte an der TU-Graz und der FH-Joanneum. Die zweifache Mutter nutzt einen Rollstuhl und ist auch Podcasterin: Hören Sie doch mal rein in die: „Die Bekenntnisse einer Vierrad-Diva“ Das diesjährige Motto des Forums war: „Neue Wege, Neues wagen - Kreative Impulse sind gefragt, denn die Nachwirkungen der Corona-Pandemie sind weiterhin spürbar", sagt Huberta Haider. Sie ist Klinische und Gesundheitspsychologin und leitet seit über zehn Jahren die FEM-Süd Frauenassistenz.
Huberta Haider: Die Frauen sind sehr stark betroffen von der Inflation, von sozialen und von finanziellen Barrieren. Sie fallen in ihre alten Rollenbilder zurück. Die Mehrfachbelastung steigt, die Gewalt steigt, die Trennungen steigen. Wir haben ein Riesenthema in der Praxis. Was auch steigt, was in allen Medien ist, sind die psychischen Erkrankungen. Und die werden in der letzten Zeit auch wesentlich intensiver und schwerer. Und das ist etwas, was uns wirklich tagtäglich beschäftigt. Unser Minister hat da schon sehr viel auf den Weg gebracht, aber wir müssen auch in die Strukturen kommen. Wir brauchen Strukturen, damit die Versorgung, die so dringende Versorgung der Psychotherapie und der klinisch psychologischen Behandlung wirklich auch dort ankommt, wo es sie braucht. Wir haben eine vulnerable Zielgruppe. Wir haben oft das Thema, dass wir barrierefreie Praxen brauchen, mit Behandlung in einfacher Sprache, in verschiedenen Erstsprachen. Also es ist nicht leicht in diesem Land mit diesem Versorgungsdefizit die richtige Versorgung zu den Frauen zu bringen. Die Frauen haben nicht die Zeit, ewig herumzusuchen. Sie haben auch nicht die Zeit an zehn verschiedene Stellen zu gehen. Es ist am besten, wenn man die Versorgung direkt zu den Frauen bringt. Und ich muss Ihnen wirklich sagen, ich meine ganz offen, es ist kaum möglich, nachhaltige, gelingende Arbeitsmarktintegration derzeit zu machen ohne die adäquaten Behandlungen. Wir spüren das auch im medizinischen System. Es verschwindet gerade ein Spital vor unseren Augen. Also irgendwas stimmt nicht und die Frauen warten immer länger. Schön, dass Sie alle da sind. Wir brauchen neue Wege. Wir brauchen einen Wandel in der Arbeitsmarktintegration. Wir brauchen wieder mehr feministische Power. So viele Frauen. Alle auf unserer Seite. Danke, dass Sie da sind. Und ich wünsche uns einen anregenden Tag. [Applaus]
Katrin Langensiepen hielt beim Forum die erste Keynote. Sie wurde 1979 in Hannover geboren und ist unter den EU-Abgeordneten eine der wenigen mit einer sichtbaren Behinderung. Sie lebt mit dem TAR-Syndrom, das die Charite-Berlin folgendermaßen beschreibt: Dabei verbindet sich die Armut an Blutplättchen mit einer Fehlbildung des Knochengerüsts.“ Üblicherweise fehlen an den Armen die Speichen. Ich habe Katrin Langensiepen nach ihrer Keynote getroffen und mit ihr über die bevorstehende EU-Wahl, die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung und ihre sozialpolitischen Ziele gesprochen. Außerdem erklärt sie, warum es wichtig ist das Wort „Behinderung“ offen auszusprechen und nicht von „besonderen Bedürfnissen“ zu sprechen.
Sandra Knopp: Ihre Eltern haben ja ihre Träume nie eingeschränkt, im Gegenteil. Sie haben ja gesagt: Wenn Sie Astronautin werden wollen, dann werden Sie Astronautin. Andere sahen das anders, dass haben Sie vorhin im Vortrag erzählt. Die dachten, sie können bestimmen, was Sie werden wollen. Jetzt sind sie EU Parlamentariern geworden und es wird mich interessieren, was es ist so das Erfülltenste am Job?
Katrin Langensiepen:Oh. Sehr gute Frage. Ich mag die Arbeit im Europäischen Parlament. Sie ist sehr frei. Man arbeitet sehr eigenverantwortlich. Wir haben keine Koalitionen, wir müssen keine Bündnisverträge einhalten. Somit habe ich eine sehr große Verantwortung meiner Arbeit gegenüber. In der sogenannten Behindertenpolitik haben wir häufig eine sehr große Einigkeit und dass wir da alle an einem Strang ziehen. Das passiert in anderen Themen oder in anderen Bereichen eher weniger. Und dabb macht es natürlich Spaß, gemeinsam für eine Sache kämpfen. Ja, also ich bin mir auch meines Lebenslaufs bewusst. Ich bin da unheimlich privilegiert. Na klar, davor der Weg war hart und jetzt stehst du hier und du bist eine von wenigen, eine von immer noch zu wenig. Aber es ist auch ein bisschen ja, Du hast es aber auch geschafft.
Sandra Knopp: Obwohl Sie eine Goldmedaille hatten, quasi im Hürdenlauf, wie Sie es mir gerade gesagt haben im Vorgespräch.
Katrin Langensiepen: Ja, das ist jetzt die Goldmedaille im Hürdenlauf, sage ich immer, wenn ich angesprochen werde. Und ah das ist ja so toll und wie du das geschafft hast und und und. Dann sage ich: na ja, die Zeit davor, das war ja nicht immer alles rosig. Ich bekomme Lob, Anerkennung für das, was ich erreicht habe, was ja so schwer ist. Aber warum ist es schwer? Ich habe ja nicht drum gebeten, dass es schwer ist und dann, dass man als behinderter Mensch so inspirierend ist. Das ist auch eine Form von Ableismus - Inspirationporn nennt man es ja auch. Da halte ich auch Leuten den Spiegel vor und sage: Was ist hier gerade eigentlich toll dran? Natürlich politische Teilhabe. Aber dadurch, dass ich da fast die einzige bin, applaudiert man schon, wenn man eine hat. Ja, aber warum ist da nur eine?
Sandra Knopp: Ableismus ist auch ein sehr wichtiges Thema. Es gibt ja jetzt auch zahlreiche Bücher darüber und die Frage, die ich Ihnen vorhin mit dem Hürdenlauf gestellt habe, ist ja eigentlich auch eine ableistische. Aber mir war es wichtig, das einfach auch anzusprechen, weil viele Menschen vielleicht gar nicht wissen, was Ableismus ist. Weil man versteht darunter, wenn man was darüber gehört hat, dann wahrscheinlich Behindertenfeindlichkeit. Aber Ableismus ist ja so viel mehr. Wie würden Sie Ableismus beschreiben?
Katrin Langensiepen: Ableismus sind die Strukturen, die mich davon abhalten an dieser Gesellschaft teil zu nehmen, teil zu haben. Ableismus kann aber auch sein, dass ich auf eine Art Podest gestellt werde. Oh, du bist so inspirierend, total toll, was da passiert oder was du machst. Aber warum ist das so toll? Warum wird es so überbetont? Und das ist auch eine Form des Ableismus, dass man dir Eigenschaften zuschreibt oder dir auch abschreibt aufgrund deiner Behinderung. "Naja, du als behinderte Frau, du hast ja gar keine Kinder" - Fragen, die von Personen kommen, die ich nicht kenne, die automatisch aufgrund ihrer Vorurteile und Bilder im Kopf, die sie haben diese Frage stellen. Die Frage würde ich einem nichtbehinderten Menschen nie stellen, so übergriffig wär ich gar nicht. Also ich würde keiner fremden Person sagen: Du hast ja keine Kinder, auf die Idee würde ich gar nicht kommen. Aber werde ich gefragt? Das geht Frauen grundsätzlich so: Wie machen sie es denn mit Beruf und Kindern? Die Frage kriegt ein Mann nie so, also da sieht man schon Parallelen.
Sandra Knopp: Definitiv. Und es ist ja auch so dieses Du kannst ja alles, wenn du nur willst. Das ist ja auch ein ableistischer Blick. Ja, du musst dich anstrengen und dann wird es schon irgendwie funktionieren.
Katrin Langensiepen: Es ist auch ganz klar - nicht jeder und jede muss Europa-Abgeordnete werden. Aber die Person sollte die Chance haben es zu werden! Es heißt ja auch im Englischen, "Persons with special needs" - mit besonderen Bedürfnissen. Also wir umschreiben die Behinderung und sagen Menschen mit besonderen Begabungen nur um dieses B-Wort zu umschiffen. Aber in der UN Menschenrechtskonvention steht ganz klar auch die Selbstbezeichnung bis hin zum Sozialmodell, weg vom medizinischen Modell - behinderte Frau. Da sind wir noch sehr weit von entfernt.
Sandra Knopp: Warum umschreiben wir eigentlich dieses Wort behindert so? Warum ist es so negativ konnotiert Ihrer Meinung nach.
Katrin Langensiepen: Naja Behinderung, wie man es auch manchmal auf den Schulhöfen hört - "wieder voll behindert, ey" - wird mit irgendwas in Verbindung gebracht, mit schwach, krank, hilflos. Der Begriff ist aber nicht dran schuld. Ich bin ja nicht eingechränkt, weil mit mir etwas nicht stimmt, sondern weil die Umgebung, die Barrieren mich dazu bringen oder mich in diese Situation bringen. Aber ich sage auch: Eine Behinderung ist eine Identifikation. Ich möchte gar nicht anders sein. Ich habe kein Problem mit mir. Und das B-Wort, behinderte Person, schreibt sie ja auch zu. AmEnde des Tages entscheidet immer die Person selbst, wie sie sich bezeichnet. Wenn sie sagt: Ich bin ein Krüppel, muss mir nicht gefallen, aber wenn das ihre Selbstbezeichnung ist, habe ich das politisch nicht zu bewerten. Wenn man aber in politischen Texten schreibt Menschen mit Handicap, dann sage ich immer "Handicap gehört auf den Golfplatz". Und das Handicap kann man nicht verbessern. Da gucken immer ganz viele irritiert. Also man muss es nicht umschiffen. Man kann sich das positiv auch wieder zurückholen.
Sandra Knopp: Sie haben vorhin gesagt, wir haben ein Mutproblem. Und es wirkt ja auch so, wenn Sie sagen: Sie waren damals die erste Frau mit Behinderung, mit einer sichtbaren Behinderung im EU Parlament. Es gibt, wenn man will, sehr wenige Personen in der Politik, die eine sichtbare Behinderung haben. Was muss da passieren? Weil es ist ja auch wichtig, dass Menschen mit Behinderung repräsentiert werden und dass Menschen, die sie vertreten, sich auch mit ihrer Lebenswelt auskennen. Also was braucht es, damit es mehr Menschen mit Behinderung in der Politik gibt, speziell auch vielleicht mehr Frauen mit Behinderung?
Katrin Langensiepen: Erst mal in der Verantwortung jeder einzelnen Partei. So ist das Prinzip. Die Parteien stellen Personen auf, schicken Menschen ins Rennen, um nachher im besten Fall in dieses Parlament gewählt zu sein. Da haben wir als Grüne uns sehr klar mal zusammengesetzt und haben gesagt: Wie vielfältig sind wir innerhalb der Partei? Wie vielfältig sind wir in den Parlamenten? Und wir haben die Frauenquote. Kann man es über eine Quote regeln, dass eine Partei behinderte Menschen aufstellt? Finde ich erst mal ganz charmant. Ich bin eine überzeugte Quotenfrau. Wir brauchen die Frauenquote auf jeden Fall! Ohne Quote wäre ich auch heute nicht da, wo ich bin. Und dann aber sich auch immer als Partei, als Verein, sich darüber klar machen: Wie sehen unsere Strukturen aus? Wo sind die Menschen und warum sind sie nicht da? Und das ist ein hohes Maß an Selbstkritik, Mut, dass man sich an Tisch setzt und sagt, auch mal böse gesagt: Wie schlecht sind wir eigentlich und warum schaffen wir es nicht? Oder warum wollen wir es nicht schaffen? Ja, auch Mut, als Politikerin, als Politiker zu sagen Ja, ich drücke jetzt mal auf den Knopf und wir treffen eine Entscheidung. Wir wollen ein anderes soziales Miteinander, wir wollen eine andere Struktur, die müssen wir uns geben, damit Inklusion gelingen kann. Und Inklusion gelingt nicht, indem wir immer sagen Oh, das ist aber schwierig, es kostet Geld und wir verprellen dann aber Person XYZ. Auch immer ein schöner Satz. Wir müssen alle mitnehmen! Wir können nicht alle mitnehmen! Das ist in einer demokratischen Gesellschaft Blödsinn. Du wirst immer eine Gruppe an Menschen haben, die das nicht wollen. Die Eltern nicht behinderter Kinder wollen nicht, dass ein behindertes Kind mit in der Klasse sitzt. Ich finde es ein Unding, sage ich mal aus behindertenpolitischer Sicht. Dafür habe ich auch null Verständnis, dass dann wieder eine sogenannte Mehrheitsgesellschaft entscheidet, inwiefern ich da am Trog mitmachen darf oder mir was nehmen darf oder nicht. Dafür haben wir die Menschenrechte, dafür haben wir die Frauenrechte, dass man genau so was festschreibt. Und es ist nicht nach Goodwill, ob mal jemand Lust drauf hat, was der Minister ja auch angesprochen hat, Minister Rauch. Wir müssen auch die Strukturen schaffen. Und den Mut zu sagen: Ich weiß, da gibt es eine Gruppe auch von behinderten Menschen, die mit dem nicht einverstanden sind. Aber wir haben auch ein Mehrheitsprinzip. Mehrheitlich sind die Stimmen so, dass sie eine Veränderung wollen. Somit werde ich nicht alle behinderten Menschen mitnehmen können. Für mich ist es auch eine Ausrede. Dann warte ich so lange, ich muss ja nichts tun - wie praktisch so lange, bis ich alle mitgenommen habe, bis ich bei 100 % bin. Und das meine ich mit wirklich auch mal eine Entscheidung zu treffen und zu sagen: So läuft es jetzt. Das wird nicht einfach. Wir sagen ja auch nicht, ab morgen wird alles anders, sondern in dem Fall, was ich ja angesprochen habe, das systematische Auslaufen lassen von Werkstätten, von Sonderschulen, Förderschulen. Da steht, es hat jetzt nicht Katrin Langensieben erfunden, wird immer so dargestellt. Es ist ein gemeinsamer Beschluss im Europäischen Parlament, und die UNO sagt im Staatenbericht Deutschland, aber auch Österreich - wir sind uns da sehr, sehr ähnlich in den Strukturen - überlegt euch was, macht einen Ausstiegsplan - hatten wir ja bei der Atomenergie ja auch.
Sandra Knopp: Jetzt ist es jetzt so, Sie treten ja für die deutschen Grünen an, und zwar auf dem aussichtsreichen Listenplatz sieben, soweit ich weiß. Genau. Sie haben immer gesagt, Sie wollen ein Europa, das inklusiv, sozial und vielfältig ist. Wie würde so Ihr Europa ausschauen? Was wäre Ihre Vorstellung davon?
Katrin Langensiepen: Muss ich gar nicht träumerisch beantworten. Wie ich schon sagte: Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wir haben Umsetzungsprobleme. Wenn Mobilität immer noch einer der Gründe ist, warum Menschen zum Beispiel an solchen Veranstaltungen nicht teilnehmen können. Der Bus ist nicht barrierefrei. Ich komme nicht aus der ländlichen Region nach Wien und kann an dieser Veranstaltung teilnehmen. Da reden wir über barrierefreie Mobilität. Politisch den Mut haben zu sagen, die Bahn muss dieses oder jenes umsetzen, man kann über Ausschreibungsverfahren reden und das darüber regeln. Ich antworte sehr technisch. Wir haben kein Erkenntnisproblem. Ich kann mir auch immer die Frage stellen: Will ich in dieser Situation so leben? Wie würde es mir gehen? Und dass wir ein Europa haben, wo ich selbst entscheiden kann, wann ich wohin fahre, mit wem ich zusammen wohne oder auch nicht, dass ich eine echte Wahl habe. Und eine Wahl ist nicht entweder nur das eine oder das andere und es ist beides schlecht, sondern eine wirkliche Wahl, dass ich Informationen bekomme. Auch noch ganz wichtig: Wenn ich nicht weiß, was hier stattfindet, kann ich mich auch nicht auf den Weg machen. Wenn ich keine Unterstützung bekomme, kann ich nicht hier sein. Es sind ja natürlich auch immer dieselben, die auf denselben Podien sitzen und sich gegenseitig erzählen, was alle wissen. Und das ist ein ganz großes Problem. Ich weiß, ich werde nicht die großen Veränderungen hervorrufen, aber ein Teil ist schon mal und das ist, was man erreichen kann. Und was wir durchgesetzt haben, dass sich alle an diesen europäischen Wahlen beteiligen können, dass jeder ein Wahlrecht hat, ein politisches Wahlrecht. Mitgliedsstaaten müssen es umsetzen. Dass ich arbeiten kann, wo und wie ich möchte, aber auch davon leben kann. Das ist so das nächste, wofür wir uns weiterhin dann einsetzen werden. Den EU Schwerbehinderten Ausweis habe ich ja erwähnt, ist nur ein Teil. Am besten wäre es am Ende des Tages: Ich habe einen Ausweis und wenn ich den nutzen möchte, kann ich den nutzen, wenn ich von A nach B auch umziehe, dass ich mich nicht wieder nackig machen muss, nicht wieder zu einem Amtsarzt muss, wo ich meine Behinderung beweisen muss. Und dann kriege ich nicht einen Grad von 70, sondern Grad von 50 und habe Pech gehabt und darf mich da erst mal mit befassen. Das ist das Europa der Grenzfreiheit, der Reisefreiheit, des Aufenthaltsrechts. Ich kann bestimmen, wo ich wohnen möchte mit meiner Assistenz. Das haben wir nämlich noch nicht. Es wird da auch immer noch so das Bild gezeichnet. Wenn ich irgendwo im Ausland leben und arbeiten möchte mit meiner Assistenz, dann wird mir die Assistenz nicht finanziert. Da muss ich wieder in meinen eigenen Nationalstaat zurück. Ja, nicht, dass die Person da Urlaub macht. Also schön, schön wieder zurück. Rentnerinnen und Rentner, die müssen das nicht. Also welches Bild haben wir von behinderten Menschen? Die wollen was extra, die wollen die Extrawurst, die wollen Benefits, die wollen Vorteile. Nö, Ich will nur dieselben Rechte haben wie jeder andere auch.
Sandra Knopp: Es war ja gar nicht so einfach, den Behindertenausweis durchzusetzen. Sie haben ihn auch als "kleine soziale Revolution" bezeichnet, als "Schritt zu einem sozialeren Europa". Was verkörpert für Sie dieser Ausweis?
Katrin Langensiepen: Wie gesagt, dass ich die Reisefreiheit habe, dass ich ihn nutzen kann, um dann vor Ort dieselben Rechte zu haben wie der behinderte Mensch vor Ort. Und, dass nicht nach dem Pass geguckt wird, sondern nach dem Grad der Behinderung, wenn du so willst. Natürlich kann man die große Frage stellen: Brauchen wir einen Ausweis? Warum muss ich mich in Kategorien stecken lassen und warum ist das so anerkannt? Hätte ich keine Nachteile, bräuchte ich keinen Nachteilsausgleich. Wir haben dieses Europa oder so ist die Gesellschaft. Aber das betone ich immer, wenn ich auch diese Disability-Card nenne. Wenn die Züge nicht barrierefrei sind, nützt mir der Ausweis nichts. Das müssen wir ganz klar so benennen. Aber wir haben erst mal eine gegenseitige Anerkennung und das ist schon ein erster Schritt. Der Widerstand wird größer, sage ich auch ganz offen, wenn es ans Geld geht. Oh, wer bezahlt denn den Aufenthalt, wenn die Person da lebt? Und das wollen wir aber nicht bezahlen und dann hört die Inklusion auf.
Sandra Knopp: Und dann wahrscheinlich, was passiert, wenn jetzt alle gleichzeitig verreisen wollen. So.
Katrin Langensiepen: Das ist das Bild, was viele dann haben. Wenn jetzt diese Möglichkeit besteht, machen sich am Stichtag alle behinderten Menschen auf den Weg und fluten die Deutsche Bahn, die Österreichische Bahn, die Serviceangebote, die Kultureinrichtungen und haben von morgens bis abends nichts anderes zu tun, als Vorteile abzugreifen - ein sehr ableistisches Bild - ein sehr behindertenfeindliches Bild und sagt: Du hast hier keine Ansprüche zu melden. Sei froh, dass - sei dankbar, dass. Aber komm hier nicht auf die Idee, was zu fordern. Was wollt ihr denn noch? Und wenn ich nicht begreife, dass 100 Millionen behinderte Menschen nicht auch Kunden sind, nicht auch Gäste sind? Also dass diese Finanzierung, wie gesagt ein soziales Investment ist und stattdessen über Last, Probleme und Kosten gesprochen wird. Wenn ich diese Menschen nicht als Kunden sehe, dann bin ich unternehmerisch blöd!
Sandra Knopp: Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Was müsste in den nächsten fünf Jahren getan werden für die Inklusion von Frauen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt? Das Thema der heutigen Tagung: Welche neuen Wege bräuchte es? Welche neuen Wagnisse müsste man eingehen? Also welche neuen Ideen braucht es?
Katrin Langensiepen: Braucht man die ganz großen neuen Ideen? Auf europäischer Ebene sage ich immer: Was finanzieren wir? Welche Strukturen finanzieren wir? Und da ist immer die Forderung, auch an die nächste Kommission zu sagen: Nicht mehr die alten, festgefahrenen, exklusiven, ausgrenzenden Strukturen finanzieren! Wir investieren unheimlich viel in Kampf gegen Rassismus, gegen Antisemitismus und wir sollten auch viel mehr in den Kampf gegen Abelismus investieren. Und wenn es um Frauen mit Behinderung und Arbeit geht, dass wir den Mitgliedsstaaten Geld an die Hand geben und sagen: Hier habt ihr Mittel für ein EU Programm - ESF Mittel - Ich antworte sehr technisch - ESF Mittel - Europäischer Sozialfonds, wo Frauen Assistenz bekommen. So wie die eine Dame im Publikum vorhin gesagt hat: Menschen sagen ihr, dass sie nicht wissen, wo sie hingehen sollen. Wen sie fragen? Das wir die Strukturen verändern, aber dann auch eine Kommissarin, einen Kommissar haben, die oder der sich durchsetzen kann. In meiner Arbeit im Europäischen Parlament habe ich immer gesehen: Wenn das Thema Behinderung auf der Tagesordnung stand, dann war immer die Gleichstellungskommissarin Helena Dalli die Ansprechperson im Plenarsaal. Egal, ob es ein Wirtschaftsthema war, oder ein Binnenmarktthema oder ein Mobilitätsthema, wo ein ganz anderer Kommissar eine ganz andere Kommissarin für zuständig ist. Es hieß: Behinderung, das ist Helena Dalli. Stattdessen sollte es heißen: Wir reden über Arbeit, Arbeitsmarkt, dann soll Nicolas Schmit, der zuständige Kommissar, etwas dazu sagen und es auf niemand anderen geschoben werden.
Fragen, wie der Mindestlohn müssen weiterverfolgt werden. Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass Gewalt an behinderten Frauen - Zwangssterilisierung - ein Straftatbestand ist. Das hat man rausgenommen, denn einige Mitgliedsstaaten wollten das nicht. Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Es gibt immer noch viele Menschen, die der Meinung sind, das brauchen wir nicht. Ist doch alles super wie bisher. Und daran müssen wir ansetzen.
Sandra Knopp: Das haben Sie auch gesagt im Vortrag. Wir haben ja auch ein Mutproblem. Was macht Ihnen trotzdem Mut für Ihre Arbeit, für Ihren Einsatz, für unsere Zukunft?
Katrin Langensiepen: Mir macht Mut, dass wir im Europäischen Parlament über die Fraktionsgrenzen hinaus immer sehr klar einer Meinung waren. Deswegen haben wir auch diesen Ausweis so schnell durchgekriegt. Wir waren eine Bank und haben gesagt: Wir wollen das. Das hat gezeigt: Man kann Politik machen. Ich kann eine sozial gerechtere Politik machen, wenn ich das will. Auch wir Sozialpolitiker können eine Macht sein. Es muss nicht immer nur die Wirtschafts und Finanzmacht sein. Wir brauchen diese Sozialunion. Sonst haben wir ein gesellschaftliches Problem. Die Rechtsaußenparteien arbeiten mit dem Geschäftsmodell Angst, Aggression, Weltuntergang. Nein. Ich will ja auch nicht, dass wir die eine Person haben, die mir nachher sagt, wo's lang geht. Ich will doch aus meiner Verantwortung nicht ausgenommen werden. Wir brauchen in der nächsten Legislatur tolle KollegInnen und die Zusammenarbeit mit Aktivistinnen. Wir brauchen immer beides. Das ist sehr, sehr wichtig. Und Geschlossenheit. Und vor allem das Wissen, dass das was man erreicht hat, nicht in Stein gemeißelt ist. Ich bin ich sehr realistisch. Ich weiß, wenn kein behinderter Mensch mehr im Europäischen Parlament sitzt, geht viel komplett zurück. Wenn ich aber mit meiner Tätigkeit, wenn wir es mit unserer Tätigkeit schaffen, in der Legislatur Dinge anzustoßen und ins Rollen zu bringen, habe ich schon mal viel erreicht. Wenn wir in der der Gesellschaft, in der wir uns befinden, Abelismus als Thema machen. Abelismus wird nicht verschwinden. Aber ich habe es geschafft. Oder wir haben es geschafft zu sagen, dass es das gibt. Und ich weiß, es ist ein Privileg. Ich bin für eine gewisse Zeit im Parlament und dann gehe ich auch wieder. Aber vielleicht kann ich in der Zeit schon mal sehr viel schaffen, erreichen mit den anderen Kollegen. Und das ist auch so der Antrieb. Inklusion ist nicht fertig. Das was wir jetzt für gut befinden - wie man ja früher, in den 60er Jahren der Meinung war, diese Einrichtungen sind gut, die hatten ihre Begründung. Heute sieht man es anders. Heute ist die Gesellschaft eine andere. Heute sind behinderte Menschen anders. Es sind junge Menschen, die sagen: Ich will da nicht mehr hin. Wir haben das Internet. Zeiten ändern sich. Wofür ich mich politisch einsetze, kann in zehn Jahren der letzte Mist gewesen sein. Aber in zehn Jahren kann ich mich auch hinstellen und sagen: in der Zeit war es okay, jetzt ist es nicht mehr okay. Und das ist auch Mut, Offenheit, auch immer seine Arbeit zu hinterfragen.
Sandra Knopp: Und doch sich mit der Community auszutauschen. Das fand ich nämlich abschließend gesagt auch noch sehr wichtig, dass Sie erwähnt haben: Sie brauchen auch die Stimmen von Menschen mit Behinderung, ob von der Straße oder übers Internet. Einfach diese Zusammenarbeit, dieser Zusammenhalt.
Katrin Langensiepen: Das ist noch mal ganz wichtig. Dass Verbände, aber auch Aktivistinnen stärker zusammenstehen. Das hat es alles mal gegeben. Wir brauchen auch in der Frauenbewegung einen stärkeren Zusammenhalt, mehr Solidarität untereinander: dass die schwarze Frau sich genauso für meine Rechte einsetzt wie umgekehrt. Dass die Unternehmerin sich genauso für meine Rechte als behinderte Frau einsetzt, wenn sie feministisch unterwegs ist und das dahin trägt und sagt: So, wir haben auch ein gesellschaftliches Problem. Wo sind denn die behinderten Kolleginnen, die Gewerkschaft? Ich muss ja nicht immer nur nach den Bündnispartnerinnen in der eigenen Community suchen, sondern wir können noch mehr Verbündete generieren und sagen: Ich brauche den weißen Mann, ich brauch die Gewerkschaft, ich brauche die Unternehmerinnen und Unternehmer und ich gucke immer, mit wem kann ich was bewegen? Du wirst immer eine Gruppe von Menschen haben, die das blöd finden. Du wirst immer Unternehmen finden, die sagen: Wir wollen keine behinderten Menschen einstellen, die finden die Frauenquote blöd. Ich kann jetzt jeden Tag gegen diese Wand rennen und versuchen Menschen zu überzeugen, deren Politik es ist, das maximal zu blockieren. Ich gucke: Wo sind meine Bündnispartner und Bündnispartnerinnen? Wo sind Menschen, die ich überzeugen kann, die mich vielleicht mal überzeugen? Das finde ich das Gute am Europäischen Parlament, dass man auch mal rausgeht und sagt: okay, ja, gebe ich dir recht, dann stimme ich zu. Das ist diese Freiheit, die wir haben und das ist, was wir brauchen!
Sandra Knopp: Danke vielmals für das Gespräch.
Katrin Langensiepen:Gerne.
Die EU-Wahlen in Österreich finden am 9. Juni 2024 statt. Schließen möchte ich diese Podcast-Folge mit einem Appell von dabei-austria Geschäftsführerin Christina Schneyder:
Christina Schneyder: Nehmen Sie dieses wichtige Thema und vielleicht auch Gedanken, Ideen, Ergebnisse aus dem heutigen Tag über das Forum hinaus mit in Ihre Vernetzungsarbeit, in Ihre Lobbyarbeit, in den Alltag, in die Gesellschaft hinein. Seien Sie laut und seien Sie beharrlich. Wir von dabei-austria werden es auch sein und meine Kolleginnen von FEM und ÖGB sind es auch!
Mehr Informationen zu dabei-austria und der FEM-Süd-Frauenassistenz habe ich Ihnen in die Shownotes gestellt. Wenn Ihnen diese Folge gefallen hat, empfehlen Sie uns bitte weiter. Unseren Podcast gibt es auf allen gängigen Podcastplattformen, wie Spotify, Apple Podcast und Google Podcast zu hören. Wir würden uns auch über eine gute Bewertung freuen. Auf ein baldiges Wiederhören freut sich Sandra Knopp.